Email-Interview mit M+M von Wolfgang Ullrich, 2021

W.U.
Seit ungefähr fünf Jahren spricht man häufiger davon, dass sich die Ost-West-Gegensätze
wieder verschärft hätten, der Prozess der Wiedervereinigung also alles andere als ein
Selbstläufer sei. Selbst jüngere Leute, die die DDR nicht mehr erlebt haben, bezeichnen sich
nun oft dezidiert als Ostdeutsche oder empfinden gar so etwas wie einen Phantomschmerz
gegenüber der DDR. Nun habt Ihr aber schon vor 2015 als Wessis mit einem
Wettbewerbsgewinn im Osten die Erfahrung gemacht, dass Eure Arbeit da nicht anerkannt
wird, Ihr viel eher als Fremde wahrgenommen werdet denn als Künstler aus demselben Land.
Wie genau war das für Euch? Wann habt Ihr das erste Mal innerhalb des
Wettbewerbsprozesses gemerkt, dass Ihr eine andere Art von Kritiker habt als sonst bei
Projekten von Kunst im öffentlichen Raum?

M+M
Tatsächlich werden viele Künstler*innen oder Kulturschaffende auch andernorts als fremd
wahrgenommen und erleben zunehmend Ablehnung bis hin zu willkürlichen
Verfahrensabbrüchen oder Rochaden in den Platzierungen. Bei dem internationalen
Wettbewerb zum Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal allerdings hat sich die Situation
von Anfang an als besonders emotional erwiesen. Du fragst ja, wann wir während des
Wettbewerbsprozesses eine „andere Art von Kritik“ spürten als sonst. Genau genommen
wurde dies bereits während des mehrtägigen Workshops deutlich, in dem alle 40 eingeladenen
Künstler*innen in Leipzig ausgiebig über die Geschichte der friedlichen Revolution, über die
Vorstellungen der Auslober*innen und die örtlichen Gegebenheiten informiert wurden. Dort
gab es auch ein Forum, in dem die Bürger*innen zu Wort kamen und bei dem man sehr bald
eine ungewöhnliche Aggressivität dem Wettbewerb selbst gegenüber spüren konnte.
Offensichtlich stand man dem Wunsch des Bundes, ein solches Denkmal in Leipzig mit über
fünf Millionen Euro Fördersumme zu errichten, grundsätzlich mehr als misstrauisch
gegenüber. Es wurde als trojanisches Pferd empfunden. Im Nachhinein verständlich, bei den
Erfahrungen mit Staatskunst vor der Wende. Auch gab es eine Reihe an meist älteren
Künstler*innen aus Leipzig, die zum Teil selbst die Montagsdemonstrationen miterlebt hatten, aber
nicht eingeladen worden waren und sich entsprechend übergangen fühlten.
Als wir dann gemeinsam mit „ANNABAU Architektur und Landschaft“ mit dem Projekt
„Siebzigtausend“ den Wettbewerb tatsächlich gewannen, empfanden wir uns übrigens
zunächst nicht als Fremde in Leipzig. Wir hatten die Wende ja sehr bewusst miterlebt. Zwei
von unserer Vierergruppe hatten auch Eltern, die in der DDR aufgewachsen und dann in den
50er Jahren nach Westdeutschland geflohen waren. So gab es noch Verwandte in Leipzig. Das
heißt, der Wettbewerb hatte durchaus persönliche Bezüge zu unseren Biografien. Wir fühlten
uns und unseren Denkmalentwurf also verstanden und gewollt. In der Jury saßen auch
Vertreter*innen der Stadt Leipzig. Aber dieser Eindruck änderte sich sehr schnell. Die
regionale Presse, allen voran die BILD und die Leipziger Volkszeitung, reagierte unmittelbar,
verfälschend und ausgesprochen polemisch. Und bei der Preisverleihung wehte uns sofort ein
sehr harscher Wind vom Publikum entgegen. Beide Reaktionen befeuerten sich gegenseitig.
Dieses Pingpong steigerte sich dann in einem von der Stadt betriebenen Internetforum, das
eigentlich zum "konstruktiven" Dialog der Bürger*innen mit den
Wettbewerbsgewinner*innen beitragen sollte. Es entwickelte sich eine erschreckend starke
Aggression uns gegenüber bis hin zu persönlichen Bedrohungen.

W.U.
Beiträge, die in diesem Internetforum gepostet wurden, druckt Ihr nun auch in Eurem Band
über den Denkmalsentwurf ab. Einige sind wirklich ungewöhnlich aggressiv – und in Diktion
und Ausrichtung sehr ähnlich zu dem, was dann ein paar Jahre später bei Pegida und
vergleichbaren Protesten zu hören und zu lesen war. Und was bis heute ganz gängig im
Umkreis der AfD und anderer rechter Gruppierungen ist. Ich bin aber nicht sicher, ob man
solche Beiträge damals – also vor 2015 – überhaupt schon als rechts wahrgenommen hat.
Empfand man die Autor*innen nicht eher als frustrierte Ossis, die noch den letzten Rest an
Stolz bedroht sahen, weil nun ein Denkmal ohne ihre Mitwirkung entstehen sollte?
Tatsächlich frage ich mich, wann ein eher noch vorpolitischer oder zumindest nicht
parteipolitisch definierter Unmut umgeschlagen ist – und wie das die Wahrnehmung
rückwirkend insgesamt verändert. Daher meine Frage: Habt Ihr Euch damals schon explizit
von Rechten oder doch eher nur von frustrierten Ossis angegriffen gefühlt?

M+M
Wir hatten damals nicht das Gefühl, dass die Aggression von einer definierten politischen
Richtung ausging. Dennoch schien die Geschwindigkeit, Einmütigkeit und Zielgerichtetheit
der Angriffe irgendwie koordiniert. Das erkennt man auch in einer ellipsenhaften
Wiederholung von Vorwürfen und Plattitüden, die fast gleichzeitig von unterschiedlichen
Blogteilnehmer*innen eingestellt wurden.
In unserem Buch „Kein Einheits- und Freiheitsdenkmal", das Du erwähnt hast, kann man ja
sehen, dass nach dieser Welle von Aggression und Ablehnung gegen unseren Entwurf gerade
auch die Stadt Leipzig selbst mit einem SPD Bürgermeister an der Spitze Strategien
entwickelte, uns los zu werden. Wenn die Anfeindungen damals deutlich im rechten Lager
verortet worden wären, hätte sich die Stadt vielleicht nicht so schnell vor den Karren spannen
lassen. Damals schien eher die Angst vor der Bürgermeisterwahl und das Gespenst einer
Entwicklung wie bei Stuttgart 21 – Stichwort Wutbürger – umzugehen. Die Lage war schwer
einzuordnen.
Dennoch hast Du Recht, dass in den folgenden Jahren Ereignisse zunehmend durch eine
ähnliche Rhetorik und durch Reaktionen von Gewalt und Hass geprägt wurden und hier die
rechten Gruppierungen ein Sammelbecken und auch Impulsgeber wurden. Trotz unserer
spezifischen Erfahrungen in Leipzig würden wir das aber ungern mit der eindeutigen
Zuordnung in Ost und West bzw. "Ossis" versus "Wessis" stigmatisieren. Diese Phänomene
ziehen sich ja leider durch verschiedene Gesellschaften.
Unser Buch verfolgt zunächst einmal die Strategie, die damals so plötzlich über uns
hereinbrechende Welle im Nachhinein greifbar werden zu lassen. Dieser mediale Shitstorm
lief ja zunächst vorrangig über Internetmedien und die Presse ab. Sobald wir reagieren oder
konstruktiv antworten wollten, liefen wir ins Leere. Eine aktive Unterstützung vonseiten der
Kulturszene, der Politik, bürgerlicher Gruppierungen o.ä. blieb weitgehend aus. Die
Übertragung dieser momenthaften Einschläge in ein Buch versucht die mediale Flüchtigkeit
zu bannen, ihrer habhaft zu werden und beispielhaft zu verorten. Das Bureau Mirko Borsche,
das den Band gestaltete, hat bewußt die Farben unseres Denkmalentwurfs und die Simplizität
eines Taschenbuches für diese Dokumentation gewählt. Das Scheitern eines symbolträchtigen
Denkmalentwurfs ist eben auch nur eine kleine Episode in der Entwicklung des
wiedervereinten Landes.

W.U.
Eine zwar vielleicht kleine, aber doch sehr bedeutsame Episode, wie mir scheint. Man könnte
es, zugegeben etwas pathetisch, auch so formulieren, dass der Streit um Euren Entwurf, der
letztlich dazu führte, dass gar kein Denkmal errichtet wurde, nun das eigentliche Denkmal
darstellt. Der Nicht-Bau des Denkmals, ja dessen Negation wird zum Mahnmal einer noch
nicht geglückten (Wieder)vereinigung. Denn ohne Zweifel wäre es zu dem Streit nicht
gekommen, wäre ein Entwurf wie der von Euch von einem Leipziger Künstlerduo
eingebracht worden. Nun gibt es aber ja sogar eine gewisse Tradition von Nicht-Denkmälern,
zumindest als Konzept. Am berühmtesten ist dabei sicher Horst Hoheisels
Wettbewerbsbeitrag für das Berliner Holocaust-Denkmal. So schlug er 1995 ja vor, kein neues
Denkmal zu errichten, sondern das Brandenburger Tor abzutragen und den Staub der Steine
über das Gelände des Holocaust-Denkmals zu verteilen. Dahinter stand das Empfinden, dass
jede neue gestalterische Setzung unangemessen, gleichsam eine zu eitle Geste wäre, um eines
Verbrechens der Dimension des Holocaust zu gedenken. Nun sollte das Einheitsdenkmal ja im
Gegenteil an ein für viele an sich erfreuliches Ereignis erinnern, hier wäre eine solche Form
von Negation zuerst unangebracht gewesen. Aber der Prozess zeigte dann eben, dass es eine
Einheit nur auf dem Papier, aber leider nicht in den Köpfen gibt, der Denkmalswettbewerb
also von vornherein fragwürdig war. Und so wurde eben unversehens etwas ganz anderes
daraus, und am Ende existiert nun mit Eurem Buch eine Art von Nicht-Denkmal. Eigentlich
müsste es stapelweise in Leipzig ausliegen oder allen Haushalten in den Briefkasten gelegt
werden, um auch nochmals eigens zu manifestieren, dass das nun das einzige Ergebnis des
Denkmal-Wettbewerbs ist – also seinerseits das Denkmal, mit der gegenüber der
Ausschreibung negierten Aussage. Oder geht Euch das zu weit, das Buch selbst zum Denkmal
zu erklären?

M+M
Das ist recht pointiert formuliert! Ein Denkmal ist ja üblicherweise ein Angebot im
öffentlichen Raum, das man nie gänzlich abschlagen kann, da es irgendwann Deinen Weg
kreuzt. Um ein Buch zu einem unausweichlichen Angebot zu machen, d. h.– wie Du meinst –
an alle Bürger*innen verteilen zu können, bräuchte es eine enorme Auflagenhöhe, einen
progressiven und dauerhaften Vertrieb und ... eine entsprechende Finanzierung. Und somit
kämen die oft unliebsamen Auftraggeber*innen wieder ins Spiel, die bei Denkmalen im
öffentlichen Raum zu den zentralen Akteur*innen gehören. Unser Buch hingegen entstand
ohne Auftrag, ja gegen jeden Auftrag und Auftraggeber und wurde maßgeblich mit
Eigenmitteln – und mit einer eingeworbenen Förderung des Kunstfonds e.V. finanziert.
In den Seiten von „Kein Freiheit- und Einheitsdenkmal“ ist obendrein die ursprüngliche Idee
von „Siebzigtausend“ weiterhin verpuppt, bzw. führt die Konzeption auf eine andere Art
weiter. Damit sind beide Projekte eng miteinander verknüpft. So war der Platz des Denkmals
von ANNABAU und uns bereits als Diskussionsforum konzipiert – gegen die klassische
Tradition des hochaufgerichteten Monuments als ein Gegenüber. Ein Forum zur Diskussion
über das Thema Freiheit, die ständiger Erneuerung und Anstrengung bedarf. Mit der
Verteilung der 70 000 mobilen Podeste sollte sich „Siebzigtausend“ zudem teilweise auflösen,
über den Stadtraum hin ausbreiten und auch individuell partizipiert bzw. aktiviert werden. Im
Kern wurden Auflösungs- und Diskussionsprozesse durch den ursprünglichen
Denkmalentwurf angeregt, vielleicht sogar angeheizt, auch wenn diese Prozesse dann
komplett anders eintraten, als von uns gewünscht.
Aber davon abgesehen, triffst Du einen entscheidenden Punkt: Das Buch sollte zum 30sten
Jahrestag der Einheit einen Anstoß geben, über Einheit und Freiheit im wiedervereinten
Deutschland nachzudenken – und zwar anhand der Emotionen im Umfeld des zum Scheitern
verurteilten Denkmals. Es ist gewissermaßen der Schatten unseres ersten optimistischen
Entwurfs, der durch die identitätspolitische Dynamik der letzten Jahre aus den Angeln
gehoben wurde. Eine Art Gegen-Statement, sowohl was Auftragslage als auch Einordnung der
Einheitsentwicklung in Deutschland betrifft. Insofern ist es etwas cheap gestaltet. Kein
monumentales Coffee Table Book mit ganzseitigen Abbildungen auf Hochglanzpapier,
sondern ein leicht zu tragendes Taschenbuch mit viel wildem Text.